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University of Bayreuth Centre of International Excellence "Alexander von Humboldt"

Bayreuth Humboldt Centre

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Meet the Grantee: Thomas Wallnig

Vom „Teutschen Florus“ und notwendiger data literacy
Wie statistische Methoden die Historiografie-Forschung revolutionieren

Ihre Forschungskooperation zu digitaler Historiografie ist in vollem Gange, als Short Term Grantee PD Dr. Thomas Wallnig von der Universität Wien und sein Bayreuther Gastgeber, PD Dr. Stefan Benz, begeistert von den bisherigen Ergebnissen berichten. Im Interview erzählen sie eindrücklich von der Bedeutung zeitgenössischer Geschichtsschreibung, zwingenden Synergien zwischen Geistes- und Datenwissenschaften und dem Wert eines Short Term Grant im Forschungsalltag. Ein Gespräch in drei Teilen.

Wozu forschen Sie gemeinsam im Rahmen des Short Term Grant?

Stefan Benz: Alles, was wir mit Vergangenheit tun, ist Geschichtskultur: Wie geht eine Gesellschaft mit der Vergangenheit um und wie verbreiten sich Geschichten über diese Vergangenheit? Die Nachrichten sind voll von Geschichtskultur, von Gedenktagen, vor fünf Jahren war dieses, vor zwanzig Jahren jenes, gestern war irgendwas. Das sind immer Narrationen, die es auch schon im 15. Jahrhundert gab. Ich komme aus der Geschichtsdidaktik und beschreibe theoretisch, was die Konsequenzen dieser Geschichtskultur sind und was die Masse an Akteur*innen produziert. Und ‚Masse‘ weißt schon auf die Datenbanken und große Datenmengen hin – die sind der Ausgangspunkt für unsere Zusammenarbeit im Bereich der Digital Humanities im Rahmen dieses Short Term Grant.

Thomas Wallnig: Wir schauen uns an, wie man Narrative in historiographischen Texten analysieren kann. Spätestens seit dem linguistic turn vor 30 Jahren in der Geschichtswissenschaft wissen wir, dass man historiografische Produkte als literarische Produkte betrachten kann: Wer sind die Akteur*innen? Wie werden diese Geschichten erzählt? Wie werden sie belegt? Wie wird Evidenz erzeugt? Das ist eine kritische Herangehensweise an Historiografiegeschichte. Der andere Punkt sind die Datenmengen. Das Höhenkamm-Narrativ über unsere Geschichte, die Geschichte des Westens, beruht auf einem sehr engen Sample von Ereignissen und Personen. Wenn man das vergleicht mit dem, was tatsächlich im Geschichts-bewusstsein früherer Generationen vorhanden war, bekommt man ein völlig anderes Bild. Die Masse des digital verfügbaren Materials ermöglicht es nun, ein anderes, sicherlich nicht unkontroverses Bild zu erzeugen.

Franco Moretti, der bekannte Literaturwissenschaftler aus Stanford, hat mit dem Ansatz des Distant Reading eine neue Art präsentiert, wie man die Geschichte des Romans schreiben kann, nämlich nicht entlang der Höhenkamm-Literatur, wie sie kanonisiert ist in den großen nationalen Literaturgeschichten, sondern indem er die Breite des digital vorhandenen Materials nutzt. Das ist der Zugang. Und nun ist für uns die Frage: Wie komme ich zu diesem Material? Es gibt viele Scans, viele Digitalisate. Wie bereite ich nun a, diese Materialien so auf, dass ich mit ihnen analytisch arbeiten kann und b, wie möchte ich dann analytisch mit ihnen arbeiten? 

Was ist während ihres ersten Aufenthalts im Juli passiert?

TW: Wir haben diese beiden Wochen damit verbracht, uns Beispiele anzusehen, z.B. den „Teutschen Florus“ (1647) von Eberhard Wassenberg und „Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten“ (1682) von Samuel von Pufendorf. Die beiden vergangenen Wochen hatten den Zweck einer propädeutischen Studie: die Abläufe durchzuspielen, die Zeiten zu messen, die Qualität der automatisch generierten Transkriptionen zu bewerten, im Grunde ein Gerüst für die weitere Arbeit zu bauen.

SB: Pufendorf gilt als Klassiker der historischen Literatur, weil er im 17. Jahrhundert geliefert hat, was man v.a. im 19. und 20. Jahrhundert als Geschichte angesehen hat, nämlich die Geschichte der Staaten, die miteinander interagieren. Und das haben wir digital dargestellt und seinen Text als grafisch anschauliches Netzwerk umgesetzt. Auch schauen wir uns den Wortschatz an: Wenn Pufendorf etwa 600 Mal das Wort ‚endlich‘ im Korpus verwendet, sagt das auch etwas über den Text aus. Wassenberg gilt dagegen als hidden champion. Aber das Narrativ, das er vom Dreißigjährigen Krieg geprägt hat, das prägt bis heute die Schulbücher, z.B. durch die Einteilung in Kriegsphasen, den böhmischen Krieg, den dänischen Krieg etc. Diesen Text mussten wir erst elektronisch lesbar machen. Durch diese Erschließung erzeugen wir Forschungsdaten, auf die wir unsere analytische Arbeit aufbauen.

In dieser Analyse ergibt sich auch ein Kontrast zwischen populären und akademischen Vorstellungen von Geschichte. Das spielt gegenwärtig wieder eine große Rolle: Fake News sind Narrationen, die gesellschaftlich nicht akzeptiert sind, deshalb werden diese News zu ‚fake‘. Hier braucht es kritische rationalistische Verfahren von Historiker*innen und den institutionellen Schulunterricht weltweit, um diese Narrationen kritisch überprüfen zu können. Wir verlieren aber nicht die klassischen Verfahren, ganz im Gegenteil, wir müssen bewerten: War das nun ein relevanter Text? Woran können wir diese Relevanz feststellen? Und wer hat von wem abgeschrieben? Wir können auch Plagiats-Software über die Historiker-Produktion des 17. und 18. Jahrhunderts laufen lassen und sehen, wie sich Diskurse gegenseitig speisen. 

Was vermag die Historiographie im 21. Jahrhundert zu „leisten“? Welche Relevanz hat sie in Gegenwart und Zukunft für Ihre Arbeit als Wissenschaftler, aber auch für die Gesellschaft?

SB: In der Gesellschaft wird vor allem ankommen müssen, dass Geschichtsschreibung ein Plural-Wort ist: Man muss immer mindestens zwei Perspektiven berücksichtigen. Durch die Erfindung des Buchdrucks etwa wurden Texte erreichbar, die sich widersprochen haben. Und damit musste man plötzlich umgehen. Seit dem 16. Jahrhundert fanden vor allem Begegnungen mit den amerikanischen Kulturen statt, die ihre eigenen Texte und Geschichten hatten, dann folgte die Begegnung mit China, mit chinesischer Kultur und Historiografie. Dadurch wurde die eigene Zeitrechnung teilweise über den Haufen geworfen. Newtons Forschungen beruhten v.a. darauf, die verschiedenen Zeitrechnungen des Christentums zu organisieren, auch vor dem Hintergrund der chinesischen Zeitrechnung, es ging nicht prioritär um tolle Formeln, sondern um Geschichte und um schlichte Chronologie! Also ist die Leistung nicht mehr, dass Geschichte eine verbindliche Bedeutung liefern soll, sondern man muss Geschichten im Plural verstehen, die uns einen Horizont von Deutungen (nach Koselleck) ermöglichen. Wir schaffen also einen Raum, in dem wir uns orientieren und möglichst frei bewegen können, so wie es unserer pluralistischen Ordnung entspricht.

Das darf aber nicht zu Relativismus führen. Wir brauchen das Rationalisierende der Wissenschaft. Da spielt das Digitale eine große Rolle als notwendiges Werkzeug. Wir entwickeln Maßstäbe, z.B. bei der Textanalyse, und diskutieren, bei welchen Plausibilitäten sich ein Diskurs herausbildet oder es noch Zufall ist. Das heißt, die rationale Überprüfbarkeit von Geschichten gehört zwingend zur Pluralität unserer Gesellschaft. Hierfür spielen moderne Verfahren der Historiografie-Analyse, wie wir sie jetzt ausprobieren, eine große Rolle, weil sie erstens die Ausgangsthese unterstützen und sie zweitens neue intersubjektive Werkzeuge liefern, damit die Deutung nicht mehr in der subjektiven Perspektive der jeweiligen Interpretin eines Textes verbleibt.

TW: Historische Erkenntnis muss sich auf gesicherte Wahrheiten gründen. Durch den Vergleich von Texten, von Büchern, von der Materialität der Quelle her ermitteln wir Historiker*innen seit jeher die Authentizität und die Glaubwürdigkeit einer Quelle. Die Modellierung und Genese von Daten zu verstehen, die unterschiedlichen Rollen von Autor*innenschaft – das ist der Punkt, wo das kritische Analysieren dieser geschichtsbildenden Vorgänge dringend ins 21. Jahrhundert gebracht werden muss. Diese data literacy ist die Grundlage für die Befähigung von Studierenden, künftigen Lehrer*innen und Akademiker*innen mit Handwerkszeug, um „das Wahre vom Falschen zu unterscheiden“, triftige Erklärungen von weniger triftigen oder untriftigen.

Der genuin geschichtswissenschaftliche Erkenntnismodus hat sich immer schon behaupten müssen, etwa gegenüber der Theologie, er hatte immer den Beigeschmack des Unbestimmten und Subjektiven. Genau diese Form von historischer Erkenntnis muss sich jetzt gegenüber den Daten-Wissenschaften behaupten. Unsere öffentliche Wahrnehmung ist voll von Annahmen über die Zukunft, die Vergangenes auf der Basis mathematischer Modelle projizieren, denken Sie an die Corona-Zahlen oder das Wirtschaftswachstum. Es ist ein Umgehen mit historischem Material auf der Basis von mehr oder weniger flexibel gestalteten Algorithmen. Somit sind Mathematik und Statistik die Wissenschaften, an denen sich der historische Erkenntnismodus abarbeiten muss. Die Datenwissenschaften können der klassischen historischen Hermeneutik das Wasser abgraben. Denn erscheint nicht das erkennende Subjekt dort obsolet, wo ein mathematisches Modell Erkenntnis generiert? Wir alle verstehen noch viel zu wenig von Datenwissenschaften, um diesen Konflikt auf Augenhöhe führen zu können.

Wenn wir uns also mit banalen statistischen algorithmischen Verfahren auseinandersetzen, hat es auch den Zweck zu sagen: Das passiert ohnehin, und es reicht nicht zu sagen: Briefe funktionieren genauso wie Tweets, die gelehrte Korrespondenz ist eine Form von Facebook, sondern wir wollen die analytischen Verfahren verstehen, wenn wir nicht nur wieder ein Buch lesen und dann ein anderes Buch darüber schreiben wollen.

Teil 2: Über zwingende Synergien und neue Skills


Verantwortlich für die Redaktion: Susanne Lopez Enriquez

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