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University of Bayreuth Centre of International Excellence "Alexander von Humboldt"

Bayreuth Humboldt Centre

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Meet the Grantee: Thomas Wallnig

Mathematik und Statistik haben die Definitionsmacht über das Alltagswissen. Ist es dann aus Ihrer Sicht schon häretisch, diese statistischen Methoden für ihre Disziplinen zu ‚umarmen‘? Das sind ja Möglichkeiten, die einer traditionell arbeitenden Historiker*in nicht zur Verfügung stehen.

SB: Wir können sehen, woher unser Denken stammt, unsere Kategorien stammen, wie sie unhintergehbar sind, weil sie uns historisch als Habitus eingeprägt sind. Wir versuchen, mit digitalen Algorithmen Strukturen sichtbar zu machen, die für die klassische Leser*in nicht sichtbar und die in den Texten verborgen sind. So legen wir ein ‚Geschichts-Unbewusstsein‘ offen, die Kategorien und Strukturen, in denen wir denken, die den Umgang mit Historizität, den Umgang mit dem Verhältnis zwischen Konstanz und Veränderung erklären können. Auch im interkulturellen Vergleich geht es um diese Kategorien. Also inwieweit sind sie triftig, inwieweit sind sie theoretisch in der Geschichtswissenschaft angelegt oder inwieweit sind sie nur kulturell fundiert und damit relativ? Es ist eine hochinteressante Frage, die man gerade so überhaupt erst fassen kann.

TW: Das bedeutet aber auch, dass die Art, wie wir Historiker*innen unser Material kritisch beleuchten, etwas höchst Überraschendes für Daten-Wissenschaftler*innen ist; oder für all diejenigen, die von der Stabilität von Kategorien und von der unhintergehbaren Treffsicherheit von Modellen ausgehen. Es braucht gegenüber Programmmierer*innen viel Überzeugungsarbeit, um klar zu machen, dass die Aufgabe der Geisteswissenschafter*innen nicht darin besteht, scheinbar Stabile Kategorien in einen Algorithmus einzupflegen. „Staat“ ist keine stabile Kategorie, „Deutschland“ ist keine stabile Kategorie, das kann man nicht als ‚same-as‘ über vier Jahrhunderte modellieren. Das sind Annahmen über die Welt, die aber nicht in der Welt selbst sind. Es ist ein menschliches Konstrukt, das sehr zeit- und kulturgebunden ist.

Wir ‚umarmen‘ die Datenwissenschaften nicht, sondern wir setzen uns freundschaftlich, aber kritisch mit ihnen auseinander, diskutieren und nutzen gemeinsam die Grundannahmen hinter der Modellierung.

Und was macht das mit Ihnen als Historiker? Wie wirken sich diese Möglichkeiten der Datenwissenschaften auf Ihre wissenschaftliche Arbeit aus?

TW: Große Teile der Historiker*innen-Community haben sich damit noch nicht beschäftigt. Aber der institutionelle Druck hinsichtlich Datenmanagement wird immer größer, sodass mittelfristig compliance erzwungen werden wird. Die Professor*innen, die noch nicht in absehbarer Zeit aufhören, werden sich damit auseinandersetzen müssen. Es geht darum, den eigenen Beitrag transparent zu leisten, die erarbeiteten Forschungsdaten zur Verfügung zu stellen. Ich muss mit den unterschiedlichen Schritten und Lizenzierungsverfahren vertraut sein, wenn ich etwas von anderen weiterentwickle und wieder zurück in den großen, stets wachsenden Pool an verfügbaren Daten gebe. Es ist ein Wissen um Auffindbarkeit, Verwendbarkeit und Nachnutzbarkeit von Daten.

Gleichsam glaube ich weiterhin an das Buch, weil es nötig ist, ein gut dimensioniertes Thema zu bearbeiten. Es ist ein Unterschied, ob ich einfach nur ein paar Auswertungen ins Netz stelle oder ob ich mir eine Frage vornehme und die aufzubereiten versuche. Jede Person, die ein Buch geschrieben hat, weiß, dass das ein Reifungsprozess ist, der mich eine Erkenntnisstufe weiterführt und anderen auch die Möglichkeit gibt, meinen Schritt mitzuvollziehen. Es ist ein Reiseführer durch Daten. Aber: Ich muss nicht einen Bestand von A bis Z durcharbeiten, wenn fast alles digital verfügbar ist, ich mir sowieso nicht die Gesamtheit aller Daten anschauen kann, und es klüger ist, wenn ich mir offen zugängliche Daten aus ähnlichen Kontexten für einen gezielten Vergleich dazu nehme. Die Designs werden sich also ändern, aber was sich nicht verändern sollte, ist die Erzeugung einer inneren Spannung im bewussten Generieren eines narrativen Bogens.

SB: Wir können nun hunderttausende von Seiten, die über ein Jahrhundert angesammelt worden sind, bewältigen. Es lassen sich mittlerweile selbst handschriftliche Texte transkribieren und es eröffnen sich Möglichkeiten digitaler Art, die das menschlich Leistbare weit übersteigen. Denn der Mensch funktioniert nicht wie ein Algorithmus, sondern es verändert sich immer wieder die Art des Denkens. Wenn ich zwei Texte gelesen habe, muss ich den ersten wiederlesen, weil durch den zweiten meine Vorstellung verändert wurde, und dann muss ich wieder von vorne anfangen. Die Maschine hat dagegen den Vorteil ihrer Inflexibilität, den Vorteil, über alle Texte den gleichen Algorithmus anzulegen und zu Vergleichsergebnissen zu kommen, die wieder kontextualisiert werden können.

Die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung erlauben z.B. eine Analyse aller bekannten deutschen Schulbücher. Wir würden uns diese nationale Autobiographie der letzten 400 Jahre ansehen, und könnten feststellen, wie manche Diskurse verschwunden sind, oder auch nur abgesunken, wie beispielsweise der Frankreich-Diskurs, der im 17. Jahrhundert sehr lebendig war, weil Frankreich damals die zentrale Macht in Europa war. Das ist jetzt erst mal mein subjektives Narrativ, könnte man kritisieren, aber ich kann es jetzt auch beweisen, mit einem Längsschnitt durch die digitalen Verfahren.

Teil 3: Zu wissenschaftlichem Arbeiten über Disziplinen hinweg und die Ambivalenz von Forscher*innenmobilität


Verantwortlich für die Redaktion: Susanne Lopez Enriquez

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